Britische Haushalte erleben einen Rückgang ihres Wohlstands

Eine Studie offenbart die prekäre Lage britischer Haushalte im Vergleich zu französischen und deutschen, verursacht durch eine “toxische Kombination” laut Autoren.

Das aktuelle Leben in Großbritannien zeigt sich in einem besorgniserregenden Zustand – und eine Besserung ist nicht in Aussicht. In den vergangenen zwei Jahrzehnten ist der Wohlstand der britischen Mittelschicht deutlich hinter den der Mittelschichten in Deutschland und Frankreich zurückgefallen. Dies bestätigt eine am Montag in London veröffentlichte Studie, erstellt von der britischen Denkfabrik Resolution Foundation und dem Centre for Economic Performance der London School of Economics (LSE).

Die Analyse basiert auf der Differenz zwischen jährlichen Einkommen von typischen Haushalten. Nach diesen Berechnungen beträgt die Differenz bei einem durchschnittlichen Haushalt in Großbritannien etwa 8.300 Pfund oder umgerechnet rund 9.700 Euro im Vergleich zu deutschen und französischen Haushalten.Die Forscher dieser Studie bescheinigen Großbritannien eine 15-jährige ökonomische Stagnation, die zu Einkommensverlusten von 10.700 Pfund bei Durchschnittsverdienern geführt hat.

Sie betonen, dass in Großbritannien die Einkommensungleichheit größer ist als in jedem anderen großen Land in Europa. Insbesondere für einkommensschwache Haushalte ist der Lebensstandard mehr als ein Drittel niedriger als in Deutschland und Frankreich. Die Autoren der Studie führen diese Entwicklung auf eine chronische Schwäche in Produktivität und Investitionen sowie auf eine zunehmende soziale Ungleichheit in Großbritannien zurück.

In der300 Seiten langen Studie wird die Situation als „toxische Kombination aus langsamen Wachstum und hoher Ungleichheit“ beschrieben, die bereits vor der Krise der Lebenshaltungskosten zu einem sinkenden Lebensstandard für Briten mit niedrigen und mittleren Einkommen geführt hat. Die Auswirkungen des Brexits auf den internationalen Handel Großbritanniens haben laut der Studie zusätzlich zu dieser wirtschaftlichen Schwäche beigetragen.

Sie stellt fest, dass Großbritannien Marktanteile auf allen relevanten Märkten, einschließlich der EU, USA, Kanada und Japan, verloren hat. Während der Anteil des britischen Handels am Bruttoinlandsprodukt (BIP) bis 2023 um 2,2 Prozentpunkte unter das Niveau vor der Pandemie gesunken ist, hat sich die Handelsquote des Rests der sieben führenden Industrienationen um 0,5 Prozentpunkte verbessert.

Diese Entwicklungen sind ein weiterer Rückschlag für die konservative Regierung, die in den Meinungsumfragen bereits rund 20 Prozentpunkte hinter der Labour-Opposition liegt. Erst Mitte November kündigte Finanzminister Jeremy Hunt während seiner Haushaltsrede an, dass die britische Wirtschaft „die Kurve bekommen“ habe und es nun an der Zeit sei, Steuern zu senken und das Wachstum anzukurbeln. Die Tories regieren seit 13 Jahren und es ist wahrscheinlich, dass die nächste Wahl im nächsten Jahr stattfinden wird.

Die Studie zeigt, dass Großbritannien zwar große Stärken hat, sich aber im relativen Niedergang befindet. „Ein oder zwei Jahre mit niedrigen Investitionen und stagnierenden Löhnen kann man überstehen, aber fünfzehn Jahre Stagnation sind eine Katastrophe“, sagt Torsten Bell, Chef der Resolution Foundation in London. Er ist nicht allein mit dieser Diagnose: Letzte Woche erklärte auch Notenbank-Chef Andrew Bailey, dass die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung in Großbritannien die schlimmste sei, die er während seiner Karriere erlebt habe. Finanzminister Hunt weist diese Vorwürfe jedoch zurück und betont stattdessen die Stärken Großbritanniens.

„Als Elon Musk vor drei Wochen hier war, sagte er, dass es weltweit nur zwei Zentren für künstliche Intelligenz gebe: San Francisco und London“, erklärte der Tory-Politiker mit Verweis auf den Besuch des Tesla-Chefs. Er betont außerdem, dass der Technologiesektor in Großbritannien doppelt so groß wie der deutsche und dreimal größer als der französische sei. Hunt glaubt, dass diese Innovationskraft der Grund dafür ist, dass Großbritannien seit 2010 schneller gewachsen ist als Deutschland. Er betont, dass es entscheidend wäre, die Produktivitätsprobleme zu lösen, um das Potenzial des Landes voll auszuschöpfen.

Gemäß den jüngsten Prognosen der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) werden die Wachstumsraten der britischen Wirtschaft in diesem und im nächsten Jahr nahezu auf der Stelle treten, mit einer Steigerung von 0,5 bzw. 0,7 Prozent. Allerdings sind die Aussichten für Deutschland noch schlechter, mit einem leichten Rückgang in diesem Jahr und einer Wachstumsrate von nur 0,6 Prozent im Jahr 2024, laut der OECD. Das von Finanzminister Hunt angekündigte Konjunkturprogramm wird an der wirtschaftlichen Misere des Landes kaum etwas ändern. Nach Schätzungen des unabhängigen Office for Budget Responsibility (OBR) wird der Mix aus Reformen und Steuererleichterungen nur einen winzigen Wachstumsschub von 0,3 Prozent bewirken.

Die Ökonomen der Resolution Foundation und der LSE sehen eine Kehrtwende erst mit mehr öffentlichen Investitionen möglich. Sie behaupten, dass diese im Durchschnitt der OECD um fast 50 Prozent höher sind als in Großbritannien und fordern, dass der Staat seine Investitionen auf drei Prozent des BIP erhöht. Dafür sind auch Steuererhöhungen notwendig, die jedoch nicht ausschließlich die Lohnkosten belasten sollten.

Diese Aufgabe könnte auf Keir Starmer zukommen. Der Labour-Oppositionsführer und Parteichef gibt zu, dass er im Falle einer Amtsübernahme ein schlechteres wirtschaftliches Erbe antreten wird, als es die Labour-Regierung in den 1970er Jahren tat. „Wer erwartet, dass eine neue Labour-Regierung schnell alle Geldschleusen öffnet, wird enttäuscht sein“, warnt Starmer. Stattdessen müsse Labour „rücksichtslos“ auf Haushaltsdisziplin achten. Dass er sich dabei von der Tory-Ikone Margaret Thatcher inspirieren lässt, hat bereits bei vielen seiner Parteikollegen für Entsetzen gesorgt.

(eulerpool-AFX)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert