Um Pharmaunternehmen am Abwandern aus Deutschland zu hindern, plant die Bundesregierung eine neue Strategie, unterstützt durch das Potenzial einer aktuellen Studie.
Die Bundesregierung setzt sich ein neues Ziel: Die Verhinderung der Abwanderung von Pharmaunternehmen aus Deutschland. Dies könnte ein gewaltiges Potenzial entfachen, wie eine neue Studie zeigt. Am Donnerstag treffen sich die Spitzenvertreter der deutschen Pharmabranche im Kanzleramt zu einem vertraulichen Gespräch. Die Erwartungen sind hoch und die Vorbereitungen für das Treffen laufen bereits seit Wochen auf Hochtouren.
Im Fokus steht dabei die neue Pharmastrategie der Bundesregierung, an deren Entwicklung sowohl das Kanzleramt als auch das Wirtschafts- und Gesundheitsministerium beteiligt sind. Ob die Strategie bereits am Donnerstag präsentiert wird, ist derzeit noch unklar. Ihr Ziel ist es, den Zugang zu Gesundheitsdaten zu erleichtern, bürokratische Hürden abzubauen und bessere Forschungsbedingungen zu schaffen. Insbesondere in diesen Bereichen hinkt Deutschland im internationalen Vergleich hinterher, weshalb Verbesserungen ein gewaltiges ökonomisches Wachstumspotenzial bieten können.
Diese Erkenntnis geht aus einer Studie des Institutes für Gesundheits- und Sozialforschung Iges und des Wirtschaftsforschungsinstitutes Wifor hervor, die im Auftrag des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI) erstellt wurde. Die Studie, die dem Handelsblatt bereits vorab vorliegt, analysiert die Auswirkungen der drei zentralen Faktoren – Digitalisierung, Innovationsförderung und Fachkräfte – auf die gesamte Gesundheitswirtschaft bis zum Jahr 2030.
Neben der Pharmaindustrie gehören dazu auch Unternehmen aus den Bereichen Medizintechnik, Biotechnologie und Digital Health. Die Studie zeigt, dass sich bereits durch eine schnellere Digitalisierung in Deutschland bis zum Jahr 2030 eine Steigerung der Bruttowertschöpfung um acht Milliarden Euro jährlich erzielen ließe – insgesamt eine Steigerung um 30,5 Milliarden Euro im Vergleich zum aktuellen Status. Eine ähnlich hohe positive Auswirkung hätte auch eine Erhöhung der Forschungsinvestitionen um fünf Milliarden Euro jährlich bis zum Jahr 2030.
Ohne diese Investitionen könnten Unternehmen den Anschluss an neue Technologien verlieren, warnen die Autoren der Studie. Dies wiederum könnte eine Kettenreaktion auslösen und schrittweise zu einer Deindustrialisierung der Gesundheitswirtschaft in Deutschland führen. Ein weiteres Hindernis für das Wachstum der Gesundheitswirtschaft ist der Mangel an Fachkräften. Bis zum Jahr 2030 könnten bis zu 320.000 Arbeitskräfte fehlen, was einen Verlust von 26,6 Milliarden Euro zur Folge hätte. Insbesondere Pharmaunternehmen hatten in der Vergangenheit vermehrt damit gedroht, ihre Produktion aus Deutschland zu verlagern.
Doch es gibt auch positive Entwicklungen. So kündigte der US-Konzern Eli Lilly Mitte November an, 2,3 Milliarden Euro in eine neue Produktionsstätte für Medikamente in Rheinland-Pfalz zu investieren. Dadurch sollen bis zu1000 neue Arbeitsplätze entstehen. “Die Befürchtungen um den Pharmastandort Deutschland sind unbegründet”, betonte Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach in Anwesenheit von Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne).
Die Autoren der Studie zeigen, dass im Vergleich zu anderen Ländern wie Frankreich, USA und Japan die Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft und der Zugang zu Gesundheitsdaten für die Attraktivität eines Standortes entscheidend sind. “Deutschland muss nachlegen, um im internationalen Standortwettbewerb bestehen zu können”, sagte Iris Plöger, Mitglied der BDI-Hauptgeschäftsführung.
“Dazu gehört unter anderem die Schaffung eines innovationsfreundlichen Umfeldes mit schnellen und einheitlichen Prozessen für klinische Studien sowie der Zugang von Unternehmen zu Gesundheitsdaten für Forschungszwecke.” Es könne nicht akzeptiert werden, dass Deutschland immer wieder aufgrund föderal-kleinteiliger Datenschutzfragen hinter andere Länder zurückfällt, während diese pragmatischer vorgehen. Gesundheitsminister Lauterbach plant bereits mehrere Digitalgesetze, an deren Ausarbeitung er gleichzeitig arbeitet und die teilweise auch in der Pharmastrategie berücksichtigt werden sollen.
Das Medizinforschungsgesetz soll alle Prozesse für klinische Studien vereinfachen und bürokratische Hürden abbauen, die je nach Bundesland aufgrund unterschiedlicher Datenschutzbehörden und Ethikkommissionen variieren können. Das Gesundheitsdatennutzungsgesetz soll zudem sicherstellen, dass Wissenschaftler und Pharmaunternehmen leichter Zugang zu Gesundheitsdaten bekommen, um neue Therapien und Medikamente zu erforschen.
Zuletzt soll ab 2025 die elektronische Patientenakte für alle verpflichtend werden, sofern keine Einwände erhoben werden. Sie soll alle medizinischen Daten wie Röntgenbilder, Medikamentenpläne und Arztbriefe enthalten können.
(eulerpool-AFX)