2023 führten wenige Börsengänge von Start-ups zu Kapitalmangel bei Europas Risikokapitalgebern; eine Branchenkonsolidierung wird erwartet.
Die europäische VC-Branche steht vor tiefgreifenden Veränderungen. Nur wenige Start-ups haben sich 2023 an die Börse gewagt, was zu einem Mangel an verfügbaren Geldmitteln bei Wagniskapitalgebern führt. Laut Experten wird es zu einer Konsolidierung innerhalb der Branche kommen. Diese Entwicklung führt zu einer ungewöhnlichen Situation für Venture-Capital-Fonds. Ohne die Einnahmen aus Börsengängen haben sie Schwierigkeiten, ihre Renditeversprechen einzuhalten und weiterhin in neue Unternehmen zu investieren.
Dies hat bereits Auswirkungen auf die gesamte VC-Szene. Yaron Valler, Gründer des Berliner Technologie-Investors Target Global, prognostiziert eine Reduktion der Anzahl von Fonds. Einige gehen sogar davon aus, dass sich die Anzahl der Kapitalgeber halbieren könnte. Auch Anbieter wie Stride VC, des bekannten Londoner Investors Fred Destin, verabschieden sich vollständig vom Markt.
Die Branche muss sich derzeit neu erfinden und innovative Geschäftsmodelle entwickeln, um die bestehende Situation zu bewältigen. Beispielsweise entstehen neue Fonds, die ausschließlich in Start-ups investieren, die in Schwierigkeiten stecken.
Doch warum ist eine ganze Branche gezwungen, sich anzupassen? Der Datendienstleister Pitchbook zählt in Europa 101 wagniskapitalfinanzierte Firmen, die in diesem Jahr am Aktienmarkt hätten debütieren können, aber aufgrund der widrigen Umstände nicht an die Börse gingen. Die Schätzung basiert auf historischen Daten, die einen Rückschluss darauf zulassen, wann Start-ups normalerweise an die Börse gehen würden. Diese Zahl verdeutlicht den enormen Einfluss der Coronakrise auf die VC-Branche.
In diesem Jahr gab es lediglich drei Börsengänge von Technologie-Firmen mit einer Bewertung über einer Milliarde Dollar in Europa. Den größten Börsengang stemmte mit 55 Milliarden Dollar der britische Chipdesigner Arm. Allerdings fand dieser an der Wall Street statt und die Hoffnungen auf weitere erfolgreiche Börsengänge wurden schnell zerschlagen. Auch für das kommende Jahr bleiben die Aussichten düster, da Milliardenschwere deutsche Start-ups wie Personio und Getyourguide bereits einen Börsengang für 2024 ausgeschlossen haben.
Der französische Investor Julien David-Nitlech von Iris Capital spricht sogar von einer längeren “Dürrephase” als nach dem Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2001. Die fehlenden Börsengänge führen nicht nur zu Geldmangel bei den Wagniskapitalgebern, sondern auch bei deren Geldgebern wie institutionellen Investoren und Family-Offices. Diese reinvestieren normalerweise ihre Gewinne in neue Fonds, was jetzt aufgrund des fehlenden Geldzuflusses nicht möglich ist.
Laut Pitchbook werden deutsche VC-Firmen in diesem Jahr voraussichtlich nur halb so viel Geld einsammeln wie 2022 (4,8 Milliarden Euro) und es ist keine Besserung in Sicht für das kommende Jahr. Earlybird, einer der größten deutschen VCs mit einem verwalteten Vermögen von rund zwei Milliarden Euro, erlebt bereits jetzt eine Reduktion der Gelder von Seiten ihrer Geldgeber. Partner Hendrik Brandis erklärt, dass vor allem jüngere Fonds und solche ohne nachweisliche Erfolge Schwierigkeiten haben.
Aus den Daten von Pitchbook geht hervor, dass in diesem Jahr auch kaum noch Geld in kleinere Fonds geflossen ist. Dirk Honold, Professor für Innovationsfinanzierung an der Technischen Hochschule Nürnberg, erklärt, dass die nächste Generation an Fonds zweifellos vor größeren Herausforderungen steht. Mögliche Konsequenzen für die Wagniskapitalgeber sind neue Geschäftsmodelle, ein Verlassen des Marktes oder die Suche nach alternativen Finanzierungsquellen.
Die anhaltende Flaute an den Börsen hat auch Auswirkungen auf die weltweite Venture-Capital-Branche. Laut dem Datenanbieter Pitchbook hat sich die Anzahl der VC-Unternehmen innerhalb des vergangenen Jahrzehnts von rund 850 auf über 2500 erhöht.
Daraus resultiert eine zunehmende Konsolidierung unter den Wagniskapitalgebern, wie auch Alexander Veller, Gründer von Target Global, bestätigt. Alessandro Izzo, Leiter bei der Europäischen Investitionsbank (EIB), ist der gleichen Ansicht. Pitchbook-Analystin Marina Temkin erklärt, dass die Anzahl der VC-Firmen ein “unhaltbares” Niveau erreicht habe und führt den jüngsten Zusammenschluss zwischen dem US-Fonds General Catalyst und La Famiglia als Beispiel an.
Dieser Trend eröffne die Möglichkeit, in Zukunft eine stärkere Einflussnahme zu erzielen, so Jeannette zu Fürstenberg, Geschäftsführerin von La Famiglia, gegenüber dem Handelsblatt.
Die Auswirkungen sind jedoch nicht nur bei den VC-Unternehmen zu spüren. Laut Temkin könnten bald mehr sogenannte “Zombie-VCs” auf dem Markt auftreten – Unternehmen, die formal existieren, aber keine neuen Investitionen tätigen. Ein Beispiel hierfür ist Stride VC aus London, dessen Gründer Fred Destin kürzlich ankündigte, keinen neuen Fonds zu lancieren.
Er betont, dass dies eher eine persönliche Entscheidung sei, die keine wirtschaftlichen Gründe habe. Jedoch hat auch die von Stride VC finanzierte Online-Gebrauchtwagenplattform Cazoo kürzlich Schwierigkeiten aufgrund der aktuellen Marktsituation erfahren.
Aufgrund der anhaltenden Niedrigzinsen, der wirtschaftlichen Schwäche und dem Mangel an Börsengängen sind alternative Finanzierungsmöglichkeiten für Start-ups stark an Bedeutung gewonnen. Hierunter fällt auch das sogenannte Venture Debt, spezielle Kredite zur Finanzierung des Wachstums von Start-ups.
Target-Global-Gründer Valler verweist auf die Übernahme des Private-Debt-Anbieters Kreos durch Blackrock und betont, dass diese Kredite zwar teuer für Start-ups seien, aber im Gegensatz dazu für ihre Anteilseigner vorteilhaft seien, da ihre Anteile nicht verwässert werden.
Ein weiterer Ansatz, den einige VC-Unternehmen verfolgen, um den aktuellen Herausforderungen entgegenzutreten, ist die Einführung von Evergreen-Fonds. Diese haben im Gegensatz zu herkömmlichen Fonds keine feste Laufzeit von zehn Jahren, sondern werden kontinuierlich mit Geld aufgefüllt, um langfristige Investments zu ermöglichen. Matt Miller, Partner bei Sequoia, einem der weltweit ältesten VC-Unternehmen, betont die Flexibilität dieses Ansatzes, da die Finanzierung der Unternehmen auch nach einem Börsengang fortgesetzt werden kann. Immer mehr VC-Unternehmen schließen sich diesem Beispiel an, wie zum Beispiel HV Capital und Kiko Ventures.
Eine interessante Möglichkeit sieht auch der britische Investor Resurge Growth Partner: Sie spezialisieren sich auf Start-ups, die von ihren bisherigen Geldgebern im Stich gelassen wurden und bieten diesen finanzielle Unterstützung an. Mitgründer Eyal Malinger betont, dass in der aktuellen Krise fantastische Investment-Gelegenheiten entstehen, da viele VC-Unternehmen schließen oder dringend Liquidität benötigen.
Trotz der aktuellen Herausforderungen ist der Geschäftsführer der KfW-Investmenttochter KfW Capital, Jörg Goschin, zuversichtlich, dass die Assetklasse Venture Capital weiter an Bedeutung gewinnen wird, da Innovationen und technologischer Fortschritt essentiell für die Bewältigung globaler Herausforderungen sind. Auch Claude Ritter von Cavalry VC betont die Chancen, die sich aus der steigenden Geschwindigkeit der technologischen Entwicklung ergeben.
Für die Start-ups, die von diesen Entwicklungen betroffen sind, könnte dies eine positive Zukunft bedeuten. Immerhin sind die Investitionen in europäische Start-ups in diesem Jahr um 45 Prozent eingebrochen. Für den Gründer von Earlybird, Cemal Brandis, liegt der Fokus bereits auf der weiteren Entwicklung im nächsten Jahr, da dann möglicherweise wieder fallende Zinsen zu erwarten sind. “In aufstrebenden Märkten werden herkömmliche VC-Fonds wieder attraktiver”, prognostiziert er.
(eulerpool-AFX)